Die Pharisäer waren sehr gesetzestreu: Die penible Einhaltung der Gesetze, Gebote, Vorschriften und Richtlinien hatte für sie oberste Priorität. Dabei verhielten sie sich wie Krämerseelen, wie Büro- und Technokraten, die mit Scheuklappen weder nach rechts noch nach links schauen, die nach Anweisungen handeln und eine Gebrauchsanweisung für alles benötigen; sie fragen nicht nach Moral, nach Menschlichkeit.
Jesus war und ist da ganz anders: Er hebt das Gesetz keinesfalls auf, doch Er setzt die Prioritäten richtig. Wenn am Sabbat eine Heilung notwendig ist, dann findet sie statt. Er entscheidet also nicht "nach Aktenlage", sondern nach menschlicher Notwendigkeit. Damit sagt Er uns: "Gott fordert keinen blinden Kadavergehorsam, der scheitern muss und unselbstständig macht, sondern Gott möchte, dass Ihr mit gesunden Menschenverstand ans Werk geht."
Diesen Grundsatz hat unser Rechtssystem übernommen: Es gibt hier eine Wertung von Rechtsgütern. Wenn nur dadurch ein Menschenleben gerettet werden kann, dass ich ohne entsprechende Fahrerlaubnis ein Sanitätsfahrzeug steuere, mir selbst Sonderrechte einräume und ohne Andere zu gefährden bei Rot über eine Ampel rase, dann verstoße ich zwar gegen die Straßenverkehrsordnung, bin aber in diesem Fall vom Gesetz geschützt, weil es ja um das höherwertige Rechtsgut Leben geht.
Die Pharisäer aber waren kleingeistige Spießer, die zwar Gott auf den Lippen, aber nicht in ihren Herzen hatten; für sie war es eine Art Sakrilig, dass Jesus, der Herr über den Sabbat, eine verdorrte Hand heilte und dachten intensiv darüber nach, wie sie Ihn töten konnten. Güte und Barmherzigkeit waren für sie fremd.
Aber dürfen wir darüber die Nase rümpfen? "Wir tun doch nur unsere Pflicht!", so hören wir oft. Vorschriften werden selbst dann nicht hinterfragt, wenn sie offensichtlich falsch sind. Bei unserem Tun müssen wir aber den Willen Gottes sehen; dabei ist der Geist entscheidend, nicht der Buchstabe, an denen viele sich klammern. Napoleon verlor die Schlacht bei Waterloo auch deshalb, weil einer seiner Generale einen schriftlichen Befehl in der Hand hielt und völlig verzweifelt war, ihn nicht umsetzen zu können, weil sich die Lage völlig verändert hatte.
Sicher: Wir dürfen aus den Geboten Gottes keine Gummiparagrafen machen, die es uns ermöglichen, alles so auszulegen wie es uns gerade passt und als Entschuldigung für unser amoralisches Verhalten herhalten sollen. So geht es ganz sicher nicht. Wir dürfen aber auch nicht den Fehler machen, die Vorschriften, die einzelnen Gebote Gottes aus ihrem Gesamtzusammenhang zu reißen. Im Judentum wurden Knaben am achten Tage beschnitten, ob es ein Sabbat war oder nicht, weil der Beschneidung aus guten Gründen eine höhere Priorität zukam und zukommt als dem Sabbat.
Folgende Erklärung mag dies verdeutlichen: Wir müssen am Sonntag nicht wirklich Brötchen kaufen, denn Tiefgefrorene zum Aufbacken gibt es ohnehin genug, und man kann sonntags auch das Brot vom Vortag essen, das machen wir werktags auch. Am Sonntag benötigen wir nicht unbedingt an jeder Straßenecke offene Geschäfte. Auch das Sonntagsfahrverbot für Lkw, die keine lebensnotwendigen Güter transportieren oder der Rettung, der Feuerwehr bzw. dem Katastrophenschutz dienen, macht Sinn. Es wäre aber fatal, wenn Polizisten sonntags zuhause blieben, wenn Ärzte keinen Notdienst leisten würden, wenn Feuerwehren sonntags nicht alarmiert werden könnten, wenn man am Sonntag den Wasserrohrbruch nicht notdürftig beheben könnte.
Will sagen: Wir haben den Sonntag, den Sabbat zu heiligen. Wir haben daraus keinen normalen Werktag zu machen. Der Mensch braucht einen Tag der Ruhe, der Besinnung, der Konzentration auf Gott. Aber wenn es nötig ist, ein Leben zu retten, dann dürfen wir nicht wegschauen. Und selbst bei weitaus bescheideren guten Taten brauchen wir uns nicht zu drücken. Oma Else und Opa Kurt freuen sich ganz bestimmt auf einen Besuch im Altenheim, Tante Wilma und Onkel Otto lassen sich gern im Krankenhaus besuchen. Es kommt also auf die richtige Wertigkeit an.
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