Ich hatte einmal einen Lehrer, der außergewöhnlich belesen war, und ich hatte den Eindruck, dass er auch jedes Museum im engeren und weiteren Umkreis kannte; seine Urlaube dürften ausschließlich aus Bildungsreisen bestanden haben. Dementsprechend groß war auch seine Fach- und Allgemeinbildung, und sicherlich bezeichnete man ihn gern als weise und klug, doch wenn man seine Aussagen hörte, dann schüttelte man oft den Kopf über das, was er sagte: Für ihn waren Arbeiter pauschal dumm und unfähig zu denken. Ansonsten nahm er selbst unkritisch alles als wahr an, was der wissenschaftliche Mainstream darbot, ganz gleich, um was es dabei ging. Offizielle Statistiken hinterfragte er genauso wenig wie die Aussagen seiner Vorgesetzten. Besonders weise und klug sind solche Verhaltensweisen sicher nicht.
Das stellt man auch sehr häufig fest: Eines meiner Bekannten hat einen Faible für Fachliteratur und hochwertige Bücher in seiner Bibliothek; allerdings ist er auch ein wenig abgehoben und sieht oft den berühmten Wald vor lauter Bäumen nicht. Oft genug erleben wir, dass der Begriff des Fachidioten, der nicht über seinen Tellerrand schauen kann, sich bewahrheitet: Die Betreffenden wissen sehr viel, aber können nicht koordinieren oder nicht die richtigen Schlüsse ziehen. Vereinfacht ausgedrückt: Es nützt nichts, alle technischen Daten von Autos vom Anfang der Automobilgeschichte an zu kennen, wenn man nicht in der Lage ist, das Fahrzeug aufzutanken. Man bekommt auch kein warmes Essen dadurch auf den Tisch, in dem man jedes Gemüse mit seinen Vitaminen und Mineralstoffen kennt und Rezepte auswendig kennt, sondern in dem man das Wissen umsetzen kann.
Damit ist nichts gegen Bildung gesagt: Wissen ist nicht nur notwendig, sondern macht auch Spaß. Ich selbst lese gerne, besuche gerne Museen und Ausstellungen und benutze das Internet auch, um mir Informationen über Kultur, Geschichte und andere Dinge zu beschaffen. Doch klug und weise ist man nicht dadurch, dass man viele Dinge vielleicht sogar auswendig kann. Wenn ich sämtliche Werke Goethes und Schillers vorwärts und rückwärts aufsagen kann, heißt das noch lange nicht, dass ich sie auch verstanden habe. Wissen macht sich nur dann "bezahlt", wenn man es auch richtig anzuwenden weiß.
So ist es auch und vor allem mit dem biblischen Glauben. Die Pharisäer und Schriftgelehrten kannten die Gesetze und die Aussagen der Propheten sehr genau, und sie kannten auch die wichtigsten Kommentare dazu. Sicher konnten sie auch erklären, was mit dieser oder jener Textstelle gemeint ist und in welchem Kontext sie zu verstehen ist; ihr Lebenswandel aber zeigte, dass sie die Anwendung der göttlichen Gebote nicht richtig verstanden haben.
Oft genug ist es bei uns Christen nicht besser: Dabei nehme ich mich nicht aus, im Gegenteil. Bei mir geht es zu wie bei den ehemaligen Fragen an Radio Eriwan: Theoretisch ja, praktisch nein. Was nützt es, wenn ich weiß, dass man Kranke gemäß Jesu Willen besuchen soll, ich aber - obwohl ich Zeit dafür habe - meine Bekannten, die im Cochemer Krankenhaus liegen, nicht besuche? Die beste Predigt taugt nichts, wenn der Prediger sie nicht vorlebt.
So hat Jakobus ganz recht, wenn er sagt, dass sich unsere Weisheit und Klugheit in einem guten Wandel in Sanftmut und Weisheit zu bewähren hat. Sind unsere Werke nicht von Weisheit getragen, dann sind sie kontraproduktiv. Unweise Handlungen sind wie Schüsse, die zwangsläufig nach hinten los gehen. Dabei haben wir einen guten Ratgeber, einen guten Leitfaden, nämlich Gottes Wort, also die Bibel. Wir tun gut daran, sie zu studieren und über das, was wir gelesen haben, nachzudenken und uns mit anderen Christen darüber auszutauschen.
Dabei geht es nicht darum, mit tiefsinnigen Worten ganze Bibliotheken zu füllen, sondern vor allem darum, durch unseren Wandel zu zeigen, dass das Wort Gottes keine dunkle, graue Theorie, sondern alltagstauglich und somit praktikabel ist. Jesus selbst hat durch Sein Leben und Wirken gezeigt, dass Seine Lehre nicht auf hypothetischen Annahmen basiert, sondern sich in der Praxis bewährt; Er hat die Menschen dort abgeholt, wo sie standen, und das tut Er auch heute noch. Wir handeln weise und klug, wenn wir sanftmütig sind, wenn wir die Sorgen und Nöte unserer Mitmenschen ernst nehmen, wenn unsere Nächstenliebe sich nicht nur auf Sonntagsreden beschränkt. Auch bei der Anwendung der biblischen Anweisungen macht Übung den Meister. Diejenigen, die wir wegen ihres Glaubens bewundern und zu Recht als Glaubensvorbilder betrachten, haben allesamt die Schule des Glaubens besuchen müssen: Auch sie mussten erst einmal das kleine Einmaleins lernen, bevor sie ihren Auftrag vor Gott erfüllen konnten.
Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass nicht jeder von uns zu einem Afrikamissionar oder zu einem berühmten Kirchenmann oder Reformator werden kann. Gott gibt uns Aufträge, die nur wir durch Seine Gnade erfüllen können. Dabei gibt es bei Ihm nicht die Unterscheidung in groß und klein, in wichtig und weniger wichtig, in bedeutend und unbedeutend. Das, was Er uns an Aufträgen gibt, ist wichtig für Ihn, und wenn wir es im Vertrauen und aus ganzer Liebe zu Ihm erfüllen, dann ist dies für Ihn genauso viel wie das, was uns mehr und bedeutender erscheint. Das Scherflein der Witwe ist für Jesus wichtiger als das, was man ohnehin nur aus Seinem Überfluss gibt.
Weisheit: Das bedeutet, sich ganz und gar auf Gott einzulassen und Seiner Führung zu vertrauen.
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