Wer seinem Vater oder seiner Mutter flucht, der soll des Todes sterben. Sein Blut sei auf ihm, daß er seinem Vater oder seiner Mutter geflucht hat.
3. Mose 20,9
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Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der HERR, dein Gott, geboten hat, auf daß du lange lebest und daß dir's wohl gehe in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
5. Mose 5, 16
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Die letzten Jahre und Jahrzehnte hat sich in unserer Gesellschaft ein regelrechter Jugendwahn ausgebreitet: Jung, schön und gesund, strahlend und das Leben noch vor sich. Ältere Mitarbeiter wurden förmlich aus den Betrieben trotz ihrer umfangreichen Erfahrungen regelrecht heraus gemobbt. Das spüren wir auch heute noch: In der Werbebranche oder in IT-Betrieben gilt als alt, wer das dreißigste Lebensjahr vollendet hat. Woanders gehört man ab vierzig zum alten Eisen, und wer mit fünfzig die Kündigung bekommt, hat kaum noch eine Chance, irgendwo eine Stelle zu finden.
In vollbesetzten Bussen und Bahnen sieht man, wie junge Leute sitzen bleiben und ältere Mitbürger selbst dann keinen Platz angeboten bekommen, wenn sie offensichtlich gehbehindert und krank sind: Weder der Krückstock noch der Rollator reichen aus, um einen Platz zu bekommen. Wer siebzig oder achtzig ist, hat oft genug die Bemerkung an den Kopf geworfen bekommen, dass er zum "Friedhofsgemüse" gehört. Dass alte Menschen einsam in ihren Wohnungen sterben, ist nicht mehr nur in den Großstädten, sondern auch in kleinen Dörfern Alltag geworden.
Ebenso macht der Pflegenotstand vor den Seniorenheimen alles andere als Halt; es gilt die Devise: "Hauptsache satt und sauber!" Skandale häufen sich, Gewalt gegen die Bewohner von Altenheimen sind keine Seltenheit. Ein Krankenhaus beschäftigt sogar einen Gerichtsfotografen, um nachzuweisen, dass bestimmte Wunden nicht durch das Krankenhaus verursacht worden sind.
Das ist traurig, skandalös und unmenschlich, und es spiegelt den Zustand unserer Gesellschaft wieder. Sicher gibt es Berufe, in denen man mit fünfzig nicht mehr arbeiten kann, weil man an der nötigen körperlichen Fitness verliert. Das gilt für Sondereinsatzkommandos und Eliteverbände der Armeen. Und wer nach Jahrzehnten am Bau seine Knochen kaputt geschuftet hat, der hat Mühe, zentnerschwere Säcke zu schleppen. Doch das alles rechtfertigt nicht, Alte einfach abzuschieben. Letztendlich haben wir damit doch schlechte Erfahrungen gemacht: Wir betrügen uns um das Wissen, das Ältere sich in einem langen Berufsleben angeeignet hat. Eine Neunzehnjährige, die gerade einmal ihre Gehilfenprüfung als Kauffrau in der Tasche hat, ist mit der Stelle als Chefsekretärin ganz sicher überfordert, ganz gleich, wie gut und wie intelligent sie auch sein mag. Erst ein Leben und viel Übung machen einen wirklich geschickt.
Es ist generell die Frage, wie wir mit den Alten umgehen. Ich jedenfalls habe mich immer gefreut, wenn meine Oma von früher erzählte, von ihrer Schulzeit, von den Erfahrungen in ihrem Leben. Manch "alter Knochen" hat mir etwas beigebracht, weil er die Situation, in der ich mich fand, aus eigener Erfahrung kannte und deshalb wusste, wie man ein bestimmtes Problem löst. Und von gestandenen Hausfrauen habe ich mir manch leckere Gericht abgeschaut.
Wer im Internet stöbert und Fragen hat, wie es im Haushalt oder mit dem Heimwerkern funktioniert, der findet gute Tipps bei "Mutti" bzw. "Vati weiß es". Diese Tipps kommen von denen, die schon ein paar Jährchen auf dem Buckel haben. Von wem lernt man denn am besten kochen? Doch nicht von dem, der selbst nach dem Motto verfährt: "Ich übe noch!" Die kreativsten Handwerker, Köche und Künstler sind die, die schon zu den Alten gehören.
Sicher: Vieles ändert sich. Und Kinder, die mit Computer und anderen technischen Errungenschaften groß werden, tun sich leichter im Umgang mit neuen Medien. Auch wenn ich selbst mit meinen knapp 50 zu den reiferen Jahrgängen gehöre, muss ich mir bewusst sein, dass es immer noch etwas zu lernen gibt und dass man Dinge nicht endlos so und so weitermachen muss, weil es schon immer so war. Eine gesunde Neugier, die Bereitschaft zu lernen, hält unseren Kopf fit und schützt uns vor Starrsinn und Arroganz.
Aber wenn man älter geworden ist, hat man vieles erfahren und macht sich nicht über alles verrückt. Man kann auch neue, noch nie da gewesene Situationen leichter abschätzen. Es fällt einem leichter, andere Menschen zu verstehen. Die Unterscheidung zwischen wichtig, weniger wichtig und unwichtig fällt entschieden leichter. Man kennt Kniffe, Tricks und Verfeinerungen.
Doch es geht auch um die generelle Einstellung dem Alter gegenüber: Natürlich wird man ab einem gewissen Alter immer gebrechlicher, und wer mit alten und ganz alten Menschen zu tun hat, sieht unwillkürlich Verfall, Krankheit und Tod. Das wirkt beängstigend und ist unangenehm. Mir persönlich wäre auch lieber, wenn es hier auf dieser Erde möglich wäre, für immer jung zu sein und voll leistungsfähig. Auch in meinem Umfeld habe ich Menschen gesehen, die völlig dement niemanden mehr erkannten, weder ihre engsten Angehörigen noch sich selbst im Spiegel, obwohl sie vorher hochintelligente Menschen waren und kognitive Dinge leicht zu erledigen vermochten. Insbesondere für Angehörige sind solche Situationen schwer.
Aber wenn hier unser Respekt versagt, wenn wir hier die Nase rümpfen, wenn wir deshalb mit dem Alter nichts mehr zu tun haben wollen, dann haben wir uns auch dafür entschieden, nicht mehr für Schwächere einzustehen. Wo ziehen wir hier die Grenze? Wir sehen doch in unserer Gesellschaft, dass nicht mehr "nur" die Alten abgeschoben werden. Mobbing gibt es nicht nur in Betrieben, sondern auch bereits an Schulen. Selbst in Kindergärten werden Kinder ärmerer Eltern ausgegrenzt, weil sie keine Markenklamotten haben. Bemisst sich der Wert eines Menschen wirklich nach seiner Gesundheit, nach seinem Leistungsvermögen und nach den Marken, die er sich leisten kann?
Wir haben die Alten ausgegrenzt in der Hoffnung, ökonomisch erfolgreicher und wettbewerbsfähiger zu werden und das krasse Gegenteil erreicht. Wir wollten die Alten nicht mehr, weil wir nicht an den Verfall erinnert werden wollen und Angst haben vor dem Tod und der Frage nach dem, was nach dem Sterben kommt, nach der Ewigkeit. Doch Weglaufen und Wegducken lösen diese Probleme nicht: Wir alle werden früher oder später eingeholt. Und es geht darum, ob wir bereit sind, von den Alten zu lernen, von ihrer Weisheit zu profitieren, ihre Erfahrungen zu nutzen. Es geht darum zu denken, dass auch wir einmal alt werden, dass wir selbst pflegebedürftig werden können; auch wir müssen uns die Frage stellen, wie wir behandelt werden wollen, wenn unser Gehör nachgelassen hat und unsere Augen nicht mehr zu gut sind wie einst mit zwanzig. Und vielleicht brauchen wir irgendwann jemanden, der unseren Rollstuhl schiebt, und irgendwann sind wir ganz sicher froh, wenn irgendjemand uns zuhört, uns immer noch ernst nimmt.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir den Alten viel zu verdanken haben: Nach dem Krieg waren es die Alten, die Deutschland aufbauten und den Wohlstand erarbeiteten. Alle technischen Vereinfachungen - ob bei der Arbeit oder zuhause - gehen zurück auf den Erfinder- und Pioniergeist vorangegangener Generationen. Unsere Eltern haben uns das Sprechen und das Laufen beigebracht. Und haben unsere Eltern uns nicht getröstet, wenn wir weinten? Haben sie nicht an unserem Bett gesessen und gewacht, wenn wir krank gewesen sind? Haben wir nicht manch guten Rat von ihnen bekommen und manchen Tipp, ohne den wir aufgelaufen wären?
Denken wir stets daran: Wenn Gott uns ein Gebot gibt, dann ist dieses Gebot ein Geschenk, etwas, dass Sinn macht, dass uns weiter bringt und hilft. Gottes Gebote dienen uns zu unserem eigenen Schutz und helfen uns, das zwischenmenschliche Zusammenleben erfolgreich zu gestalten. Das Alter ehren ist ein Gebot, von dem wir früher oder später profitieren, wenn wir selbst in die Jahre gekommen sind. Und wenn wir die Alten bereits in jungen Jahren ehren, dann bekommen wir viel von ihrem Wissen, von ihrer Weisheit mit auf den Weg und erleichtern damit unser eigenes Leben.
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