Es waren die Jahre in denen es in der Landwirtschaft an allen Ecken und Enden fehlte. Viele Landarbeiter waren in die Industrie abgewandert, oder in den Westen abgehauen. Für moderne Maschinen gab es lange Wartezeiten und für die alten gab es keine Ersatzteile. Sie standen unnütz rum oder mussten als Ersatzteilspender herhalten.
Zu all dem spielte das Wetter besonders in diesem Jahr den Bauern übel mit. Das Korn war lange schon reif. Die Bauern befürchteten es würde ihnen auf dem Halm verfaulen.
Der Boden war so durchnässt, dass man mit den schweren Maschinen zu weit in ihn einsank um auch nur an Ernten denken zukönnen.
In den kurzen Zeiten in denen die Sonne hinter den Wolken hervortrat schaffte sie es nicht das Korn und den Boden abzutrocknen.
Die Lage war sehr heikel.
Auch der Genossen Losungen halfen nicht weiter. "Ohne Gott und Sonnenschein holen wir die Ernte ein", so hatten sie in ihren Parteiorganen vollmundig getönt.
Und nun?
M. war als junger Mann in dieser Zeit bei der Fahne.
Eines Tages mussten sie ihre " Siebensachen " packen, einschließlich Sturmgepäck. Sie bestiegen die G5 -LKW.
Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Den Abschluss bildete wie immer die Gulaschkanone.
Also würde es länger dauern.
Sie wussten zwar, dass sie zum Ernteeinsatz fuhren, doch man hatte ihnen nicht gesagt wohin.
So fuhren sie ins Blaue.
Die Zeit verging.
Langsam senkte sich die Dämmerung herab. Die Gespräche und das Rätselraten "Wo es denn wohl hin ginge?", waren unter den Soldaten verstummt.
Mitten in der Nacht kamen sie in einer Ortschaft an. Verschlafen stolperten sie in ihre Unterkunft. Es musste eine Schule sein. Man hatte Stroh in die Klassenzimmer gebracht. Darauf legten die Soldaten ihre Zeltbahnen.
Dann wickelten sie sich in ihre Decken. Vor Müdigkeit schliefen sie schon nach kurzer Zeit ein.
Niemand hatte mitbekommen wo sie sich befanden.
Nächsten Morgen ging es auf das Feld.
Für die meisten Soldaten eine ungewohnte Arbeit. Doch die Jungs hatten ihren Spaß. Auf jeden Fall gefiel es ihnen besser als das eintönige Kasernenleben. War auch der Himmel immer noch wolkenverhangen, so gab ihnen die frische, vom Duft des überreifen Korns durchtränkte Luft und die Weite der sich bis zum Horizont hinziehenden Felder ein unbeschreibliches Gefühl der Freiheit.
Es dauerte gar nicht lange, da hatte der Wind ihnen, ihre vom Drill der Kaserne, den ständigen Kommandos, des nicht seine eigenen Gedanken äußern dürfen, des sich ständig verstellen müssen, herrührenden Verklemmungen aus den Gehirnwindungen geblasen.
Ihre individuellen Eigenheiten brachen wieder durch. Und was Wunder, so kam es auch schon bald zu den ersten derben Späßen.
Die Kapos ließen es geschehen. Waren doch auch sie dem Reiz dieser ungewohnten Umgebung erlegen. Sie waren ja kaum älter als die Soldaten und von gleichem Temperament.
Der erste Tag auf freiem Feld beim Garbenhocken und Hockenwenden neigte sich dem Abend zu.
Sie alle waren zufrieden mit dem was sie geschafft hatten. Schweigend fuhren sie in die Unterkunft, wuschen sich, aßen und streckten sich auf das Strohlager zum Schlafen aus.
So ging das die liebe lange Woche. Am ersten Sonnabend bekamen sie dann am Nachmittag frei.
Und was schon bald an ein Wunder grenzte, man hatte ihnen sogar ihre Post nachgesandt. Wenn auch mit erheblicher Verspätung, so dann doch schließlich zur Erbauung der Empfänger.
Einige Soldaten schlenderten durch das Dorf. Andere setzten sich an die ins Freie gestellten Tische. Sie wollten ihre Post gleich wieder beantworten.
So auch M.. Er hatte seinen Brief schon bald fertig, steckte ihn in den Umschlag und wollte gerade den Absender notieren, als ihm einfiel, dass man ihnen immer noch nicht gesagt hatte wo sie sich befanden. Sie waren bisher auch immer unter sich gewesen. Mit den Einheimischen, den Landarbeitern des Volksgutes, hatten sie bisher kaum Kontakt.
Inzwischen hatte sich eine Gruppe neugieriger, kleiner, vielleicht neun bis zehn Jahre alter Mädchen zu den schreibenden Soldaten gesellt. Sie hatten wohl Ferien. Und da in ihrem kleinen Dorf nicht viel geschah, kam ihnen eine Abwechslung mit den vielen jungen Menschen gerade recht.
M. sah die Mädchen, die um ihn herum standen an und fragte nach dem Namen des Dorfes.
Was nun geschah konnte er sich nicht erklären.
Als hätten die Kleinen auf ein Stichwort gewartet, so prusteten, kicherten und lachten sie schließlich lauthals aus sich heraus.
M. sah sie verdutzt an. Worüber lachten die Mädchen?
Es war doch eine einfache harmlose Frage die er ihnen gestellt hatte.
M. setzte noch mal an. Er wiederholte seine Frage. Und wieder die gleiche Reaktion bei den Mädchen. Sie wurden immer gelöster und sprangen hüpfend und lachend um ihn herum.
Inzwischen waren noch andere Soldaten an den Tisch getreten. Es machte sich eine fröhlich, heitere Atmosphäre breit. Alles quasselte und plauderte miteinander und auch durcheinander und hin und her und wer weiß wie es geschah hatte sich jedes dieser kleinen Mädchen einen großen Freund geangelt.
Von einem dieser Mädchen hatte M. dann doch noch die Anschrift erfahren. Sie ging nicht mehr von seiner Seite. Er musste es ihr wohl besonders angetan haben. M. war ganz verwundert darüber.
Schließlich nahm sie ihn an die Hand. Das kleine Mädchen den großen jungen Mann.
Sie erzählte ihm alles aus ihrem kleinen, ach so kurzem und doch schon mit Wehmut erfülltem Leben.
Zuhause waren sie eine große Familie. Sie war eines von vielen Kindern.
Wie schon immer in der DDR üblich, und auf dem Land erst recht, mussten Vater und Mutter zur Arbeit.
Hatten sie es mit dem lieben Vieh zu tun, dann blieb für die Kinder, auch wenn sie sie noch so liebten, nicht viel Zeit übrig.
Die Größeren mussten die Kleinen mit versorgen. So hatten sie, die sich doch auch nach Zeit zum Spielen und Gemeinschaft mit ihren Eltern sehnten, schon früh ihre nicht gerade leichten Aufgaben und Pflichten zu übernehmen. Nachlässigkeiten konnten sie sich dabei nicht leisten. Mit den Eltern war dann kein "Gut - Kirschenessen".
M. spürte der Kleinen ab, dass sie mit ihren wohl neun Jahren schon einiges vom Ernst des Lebens begriffen hatte. Doch ihre kleine Seele schrie geradezu nach mehr.
Wollte sie sich so, wenn auch unbewusst, eine Quelle erschließen?
Sie hatte gespürt, hier war jemand der sie in ihrer ganzen Persönlichkeit ernst nahm. So etwas war ihr bisher noch nicht passiert. Da fragt sie doch jemand etwas und ist allen Ernstes bereit ihr zu glauben.
M. wusste damals nicht viel von Gott und Glaube. Er kannte aber das viel zu frühe Verantwortung tragen müssen. Und dabei noch einsam den Beschimpfungen eines Stiefvaters ausgesetzt zu sein. Was ihn bewogen hatte, auch die letzten Bruchstücke seines naiven Kinderglaubens aus dem Religionsunterricht über Bord gehen zu lassen.
War es dieses gleiche Erleben was die zwei nur vom Alter unterschiedlichen Menschen verband?
Die Mädchen machten sich auf den Heimweg. Die Soldaten mussten zum Zählappell antreten. Dann wurde Nachtruhe befohlen.
Am folgenden Montag war das Wetter gut genug, um mit der Arbeit auf den Feldern weiter zu machen.
Die Soldaten hatten sich eingearbeitet. Die Arbeit, die frische Luft und die entspannte Atmosphäre tat ihnen sichtlich gut. So waren sie zum Feierabend nicht mehr allzu abgespannt.
Und welch eine Überraschung, als die LKW`s auf den Schulhof fuhren und die Soldaten von den Ladeflächen sprangen, da waren zu deren Erstaunen auch ihre kleinen Freundinnen wieder zur Stelle.
Eine jede hielt Ausschau nach ihrem Erwählten. Den jungen Männern tat diese kindliche Zuneigung gut. Sie spielten das lustige Spiel mit. Es erheiterte sie, blieb aber an der Oberfläche.
M. spürte in sich Saiten angeschlagen. Sie brachten etwas in ihn zum Klingen. Etwas was ihm erst etliche Zeit später deutlich wurde, ja zur Last wurde, zum Gefängnis.
Seine ihm nicht anzusehende und durch die Gemeinschaft mit den jungen Männern überlagerte, selbst nicht bewusste, innere Einsamkeit.
Hatte M. am Beginn der Freundschaft mit der Kleinen noch geglaubt, sie würde ihn als ihren großen Teddybären ansehen, so erfasste ihn aber dann doch ein ungläubiges, ängstliches Staunen in ihren Begegnungen.
Da war nichts süßlich Kitschiges. Ein, ja heiliger, reiner Ernst ging von dem Mädchen aus der auch M. ergriff.
Viele Jahre später, nach dem M. seine bittere Einsamkeit in vollen Zügen durchlitten hatte und ihn Jesus endlich daraus errettet hatte, begriff er was und warum dies mit ihm und dem Mädchen so geschehen war.
Wie so oft sprach Gott durch sein Wort zu ihm. So las er dann eines Tages in 1.Samuel 18.1: „...., verband sich die Seele Jonatans mit der Seele Davids, und Jonatan gewann ihn lieb wie seine eigene Seele.“
Ja so war es auch zwischen ihnen passiert! Ihre zwei Seelen erkannten ihre Verwandtschaft, verbanden sich zu einer tiefen, reinen, heiligen, ernsten Freundesliebe.
Der Ernteeinsatz der Soldaten war vorbei. Nach einigen Dankesreden mit dem zu solchen Anlässen üblichen ideologischen Schmalz, packten sie ihre sieben Sachen und bestiegen ihre Fahrzeuge.
Die Mädchen hatten sich zum Abschied eingefunden. Sie sprangen um die Laster herum.
Nur M. seine kleine Freundin konnte sich nicht an dem fröhlichen Treiben beteiligen. Sie stand etwas abseits.
M. sah zu ihr hinüber.
Sie sahen sich in die Augen.
Sie wussten beide um ihr Leid. Ein Leid das noch keinen Namen hatte. Mit dem sie nun, jeder für sich, allein fertig werden mussten.
Die Motoren sprangen an.
Ein Auto nach dem anderen verließ den Schulhof. Staub und Qualm stieben empor.
Den Soldaten war das Lachen vergangen. Sie wussten was sie erwartete.
Nach der ländlichen Idylle mit seiner, wenn auch begrenzten Freiheit, erwartete sie nun wieder der Kasernenhofmief.
Auch nach vielen Jahren noch muss M. an sein Erlebnis mit dem kleinen Mädchen denken. Sie war eine von den Menschen die ihm Gott an den Lebensweg stellte. Die, als würden sie ihm zuwinken und sagen wollen:" Geh deinen Weg. Es gibt noch Menschen die dich mögen ".
In dieser seiner schweren Zeit wurde er von ihnen getröstet. Wer kann besser Leid verstehen, als der, der Leid durchlitten hat. Darum fühlten sie sich so verbunden. Standen sie sich so unsagbar nahe. Ahnten was ihnen das Leben nach ihrem Abschied noch bescheren würde. Weckte in ihnen das Verlangen nach einem Beistand. M. hatte dieser "Beistand" gefunden. Schon lange war der ihm auf den Fersen. Nun wird er getröstet. Auch dann, wenn es Zeiten des Leidens gibt. Gott ist da in seinem Stellvertreter, seinem Tröster.
O kleines Mädchen, wie es dir auch ergangen sein mag, lass dich finden, dich trösten. Vater ich würde sie gern wiedersehen. Bei dir.
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