Wir alle wollen in den Himmel kommen, und auch die, die an kein Fortleben nach dem Tode glauben (wollen), sehnen sich eigentlich nach einem ewigen Leben, denn das irdische Leben ist kurz. Deshalb stellt sich jeder von uns früher oder später die Frage nach dem ewigen Leben und auch, wie er dieses ererben, also erhalten kann. Die Frage des Schriftgelehrten, der Jesus damit versuchen wollte, war, ist und bleibt immer aktuell.
Jesus antwortet mit einer Gegenfrage, und man erfährt, dass der Schriftgelehrte die Antwort längst weiß: "Den Herrn, unseren Gott, zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst!" Dieses Gebot steht sowohl im 3. Mose 19,18 als auch im 5. Mose 6,5. Gläubige Juden - insbesondere Pharisäer und Schriftgelehrte - kannten die mosaischen Gebote meist auswendig und sehr gut: Sie kannten auch die wesentlichsten Kommentare dazu und verfassten selbst ebensolche. Doch der Schriftgelehrte weiß nicht so richtig wer sein Nächster ist, und auch wir stellen uns oft diese Frage: Ist es unser Nachbar, der uns vielleicht ärgert? Unser Arbeitskollege, der uns mobbt? Unser ehemaliger Klassenkamerad, der jeden verpetzte? Ist es der Freund, der uns half, der Anwalt, der einen verloren geglaubten Prozeß für uns gewann, der Banknachbar, der uns abschreiben ließ? Der grössere Junge, der uns einmal auf dem Schulhof verteidigte als einige, die stärker waren als man selbst, einem Kloppe verpassen wollten?
Jesus war und ist ein guter Lehrer: Didaktik - also die Lehre des Lehrens - ist Ihm nicht fremd: Schließlich ist Jesus nicht nur Mensch, sondern zugleich Gott und weiß somit alles und kennt sich daher auch dort bestens aus. Deshalb gibt Er ein Gleichnis. Er erzählt von einem Reisenden, der unter die Räuber gefallen ist und halbtot von ihnen liegen gelassen wurde.
Ein Priester und ein Levit - beides also Theologen, die sich in den Schriften auskennen und deren Beruf der Gottesdienst ist - sehen den Mann und gehen auf der anderen Straßenseite an dem Hilflosen vorbei. Vielleicht haben sie es eilig, vielleicht haben sie einen wichtigen Termin, ganz sicher haben sie Angst, denn wer weiß schon, wo die Räuber sind? Es könnte gefährlich sein, und deshalb gehen sie weiter. Vielleicht spielen auch viele andere Gründe eine Rolle.
So ist es auch heute noch: Bei Unfällen stehen viele Schaulustige drumherum und versperren den Rettungskräften den Weg. Oft ist es sogar so, dass die Rettung erst spät gerufen wird, weil sich der Eine auf den Anderen verlässt. Keiner traut sich wirklich zu helfen, und je mehr an der Unfallstelle sind, je mehr verlässt sich der Einzelne darauf, dass ein Anderer reagiert und eingreift. Die Angst, etwas falsch zu machen und deshalb strafrechtliche Konsequenzen tragen zu müssen, ist groß; dabei ist die Haftung für Laien in solchen Fällen ausgeschlossen; das Risiko, wegen unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden, ist weitaus grösser.
Aber auch in anderen Fällen stellt man fest, dass die Menschen Weltmeister im Wegschauen sind: Sie erleben oft die Streitereien in der Nachbarschaft und wissen, dass Frau und Kinder verprügelt und misshandelt werden, doch keiner greift ein, niemand ruft die Polizei. Wird jemand auf der Strasse zusammengeschlagen, dann läuft alles davon, und niemand denkt daran, Sicherheitskräfte oder Polizei zu rufen, obwohl man das Handy dabei hat, es Notrufsäulen gibt oder sogar eine Wache im Bahnhof selbst.
Der Samariter kannte auch das Risiko und wusste: "Die Räuber können noch in der Nähe sein, und ich kann durchaus das nächste Opfer sein!" Genauso wusste er zugleich: "Wer weiß, ob noch ein Anderer rechtzeitig vorbeikommt? Ich muss, ich will ihm helfen, allen Gefahren zum Trotz, sonst stirbt er." Er gießt Öl auf die Wunden, Öl, das teuer ist, und er verbindet den Verletzten. Dann hebt er ihn auf sein Tier, bringt ihn in die Herberge und fordert den Wirt auf, den Verwundeten zu pflegen. Er zahlt zwei Denare und verspricht, auch die Mehrkosten, die entstehen könnten und um deren Höhe er noch nichts weiß, zu übernehmen. Seine Hilfe kostet zunächst Mut, dann Geld und Mühe. Doch der Samariter - für Juden unreine Leute - handelt menschlich. Er liebt seinen Nächsten wie sich selbst und tut, was er tun kann.
Dies ist die Liebe, die Gott von uns verlangt. Barmherzigkeit ist Ihm wichtiger als Brand- und Sühnopfer. Gott ist ein Gott der Liebe, und deshalb sollen wir auch lieben, unsere Glaubensgeschwister, aber auch die Verlorenen, die Seine Botschaft bedürfen.
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